Jüngere Entwicklungen
Bei den neueren Trends gleicht sich die Entwicklung in den Niederlanden immer mehr
derjenigen anderer europäischer Länder an. Die Mountainbikewelle ist auch an
den Niederlanden nicht spurlos vorübergegangen, wenngleich sich über den Sinn von
geländegängigen Fahrrädern mit 21 Gängen im flachen und wildnisarmen
Holland trefflich streiten ließe. Seit den 1990er-Jahren werden auch bei Cityrädern
immer leistungsfähigere Schaltungsnaben zur Norm. Sachs machte bei den Nabenschaltungen
Ende der 1980er-Jahre Sturmey-Archer die monopolähnliche Marktposition streitig,
wurde aber später wiederum von Shimano (mit den Nexus-Naben) überholt. In den letzten
Jahren haben die Niederländer auch die Vorzüge gefederter Räder entdeckt, wenngleich im
internationalen Vergleich recht zögerlich. Und last but not least
haben mittlerweile
auch bei den namhaften Herstellern holländischer Räder geschweißte Rahmen
aus Fernost die gemufften und gelöteten Rahmen aus eigener Herstellung weitgehend verdrängt.
In einem Punkt unterscheidet sich aber auch der heutige Fahrradmarkt
in den Niederlanden vom "Rest der Welt": Holländer kaufen weiterhin
lieber Qualitätsräder im Fachhandel als Billigräder aus dem Kaufhaus oder dem
Baumarkt. 2001 wurden 87 % aller neuen Räder beim Fachhandel gekauft, der
Anteil dieser Räder am Gesamtumsatz lag wegen der höheren Preise im
Fachhandel sogar bei über 90 %. Der Durchschnittspreis des holländischen
Fahrrads (einschließlich der günstigen Kinderräder!) betrug in jenem Jahr 557
Euro, rund das anderthalbfache des Preises eines in Deutschland verkauften
Rades. Der Grund dafür, dass die Holländer bereit sind, relativ viel Geld für
ihr Fahrrad auszugeben, dürfte darin liegen, dass sie ihr Fahrrad tatsächlich
benutzen, und das sogar vergleichsweise intensiv, während die deutschen
Discounter- und Baumarktfahrräder häufig wenn überhaupt, dann nur an sonnigen
Sommersonntagen für kurze Ausflüge genutzt werden. Allerdings gibt es auch
historische Gründe für die relativ starke Position des Fachhandels, wie im
Folgenden kurz anhand der Geschichte der Branchenorganisation erläutert werden
soll.
Organisation
der niederländischen Fahrradbranche
Bereits 1893 schlossen sich die Hersteller der Zweiradbranche in Utrecht zu einem
Dachverband zusammen, der später den Namen Rijwiel- en Automobiel-Industrie
(RAI) bekam und bis heute existiert. Diesem Verband war auch ein Teil der Großhändler
angeschlossen. Zehn Jahre später organisierte sich auch der Einzelhandel im
Fahrradgewerbe unter dem Namen Bond van Rijwielhandelaren en -Herstellers in Nederland,
kurz BRHN, in erster Linie, um die starke wechselseitige Konkurrenz zu dämpfen, die die
Verkaufspreise beeinträchtigte. Es gehörte wenig dazu, ein Fahrradgeschäft zu gründen;
die BRHN-Händler wollten sich mit ihrem Zusammenschluss von nicht angeschlossenen
Händlern (die vom BRHN jahrzehntelang pauschal als "Pfuscher"
abqualifiziert wurden)
bzw. von Billiganbietern abheben.
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So wurde
1912 eine Liste aller anerkannten niederländischen Einzel- und Großhändler
zusammengestellt, mit
denen die BRHN-Mitglieder ausschließlich Geschäfte tätigen durften. Wer entgegen den
Verbandsrichtlinien regelmäßig bei "Pfuschern" kaufte, wurde
zunächst mit Geldbußen bestraft und im Wiederholungsfall ausgeschlossen und
mit Boykott belegt. Dieses System wurde auf alle
Stufen der Fahrradbranche übertragen und konnte sich wegen der grundsätzlich ähnlichen
Interessen der einzelnen Handelsstufen - Ausschluss von Konkurrenz; Sicherung höherer
Verkaufspreise - behaupten. Da die Interessen von Einzel- und Großhändlern in
verschiedenen Punkten jedoch nicht deckungsgleich waren, gab es immer wieder auch
Streitigkeiten, Brüche und Wiederannäherungen zwischen den Handelsstufen. 1919 schlossen
RAI und BRHN einen Vertrag zur Gründung eines gemeinsamen Zentralbüros des
Fahrradhandels (Centraal Bureau voor den Rijwielhandel, kurz CBR), das Mitgliederlisten
führen und die Einhaltung der Abmachungen überwachen sollte. Später legte das CBR auch
Verbraucherpreise und Handelsspannen fest und bildete somit ein Kartell, das den heimischen
Fahrrad- und Fahrradteilemarkt - ungeachtet der Streitigkeiten zwischen den angeschlossenen Verbänden -
umfassend beherrschte.
Erst 1992 wurde das CBR als eine den freien Handel behindernde
Institution vom Staat verboten und aufgehoben, doch die lang bewährten Handelspraktiken
verschwanden deswegen nicht von heute auf morgen. Die so genannten "A-Marken", also die
Hauptmarken der angesehenen Hersteller, sind nach wie vor praktisch nur beim Fachhandel zu
haben. Zusammen mit der geringen Zahl verbliebener holländischer Fahrradhersteller, die
einander gut kennen, sowie der Treue der Holländer zu niederländischen Fahrradmarken
kann von scharfer Preiskonkurrenz weiterhin keine Rede sein. Im Herbst 2000 leitete das Kartellamt
in diesem Zusammenhang ein Untersuchungsverfahren ein und verhängte als
Ergebnis dieser Untersuchung im April 2004 empfindliche Geldstrafen in Höhe von insgesamt
fast 30 Millionen Euro über die drei größten Fahrradhersteller.
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ANWB-Plakat zur 25jährigen
Jubiläumsfeier in Haarlem, 1908. Der ANWB verstand sich schon damals allgemein als
Interessenvertreter für Touristen.
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ANWB -
Radfahrer und Autofahrer unter einem Dach
Schon vor den einzelnen Handelsstufen der Fahrradbranche organisierten sich in den
Niederlanden die Radfahrer zu einem landesweiten Verband. 1883 wurde in Utrecht unter der
Leitung des Engländers Charles Bingham der Nederlandsche
Vélocipèdisten-Bond gegründet, der später den Namen Allgemeiner
niederländischer Radfahrerbund (Algemene Nederlandse Wielrijders-Bond,
kurz ANWB) bekam. Seit seiner Gründung in einer Zeit, in der das Fahrrad noch als reines
Sport- und Freizeitgerät diente, blieb der ANWB diesem Aspekt immer treu: der Verein
entwickelte sich zu einem Tourismus- und Verkehrsverein im breitesten Sinne. Man
beschäftigte sich mit dem Zustand der Straßen und Wege und deren Beschilderung, dem
Radwegebau, Karten und Reiseführern und wie selbstverständlich auch mit dem Motorrad-
und Autofahren sowie dem Wassertourismus.
Heute ist der ANWB der größte Verein des Landes und
bekommt er vom Staat jährlich Zuschüsse in Millionenhöhe um für die Ausschilderung
aller Straßen im Land zu sorgen. Seit vielen Jahrzehnten haftet am ANWB der Ruf einer
einseitigen Autofreundlichkeit, und 1975 wurde aus diesem Grund der alternative
Fietsersbond als Radfahrerlobby gegründet. Dennoch setzt sich der ANWB auch
für Radfahrer ein und verdankt Holland sein ausgiebiges Radwegenetz in entscheidendem
Maße der Arbeit des ANWB. Der ANWB symbolisiert die Tatsache, dass Radfahrer und
Autofahrer in den Niederlanden keine zwei so deutlich zu unterscheidenden Gruppen sind wie
in Deutschland.
Zulieferbetriebe und
Komponentenhersteller
Die niederländischen Fahrradhersteller konnten sich früher beim Zukauf von Komponenten
größtenteils auf dem Inlandsmarkt bedienen. Schutzbleche, Speichen, Sättel, Lenker,
Kettenkästen usw. - alles wurde von einer oder mehreren Firmen angeboten. Einzige
Ausnahme waren die Radnaben, die - abgesehen von der erwähnten Beckson-Rücktrittnabe und
vereinzelten Eigenfabrikaten mancher Fahrradhersteller - immer importiert werden mussten,
und zwar überwiegend aus Deutschland und England. Auffällig groß war die Zahl
niederländischer Reifenhersteller, wohl wegen der niederländischen Kolonie Indonesien,
in der Rohkautschuk produziert wurde, das daher in Holland relativ günstig war.
Vredestein war dabei stets der größte niederländische Reifenproduzent - und ist heute
der einzige. Aus deutscher Sicht erwähnenswert ist noch die Firma Lepper in Dieren, die
1926 als Zweigwerk des Bielefelder Lepper-Werkes gegründet worden war und nach dem Krieg
verselbstständigt wurde. Lepper in Dieren stellt heute Fahrradsättel und Schutzbleche
her.
Heutige
Markenlandschaft
Von den namhaften alten Fahrradherstellern haben sich neben Batavus und Gazelle nur Union
und Sparta als selbstständige Marken behauptet. Andere alte Marken verschwanden oder
existieren nur noch dem Namen nach. Batavus und Union feiern in diesem Jahr ihr
100jähriges Bestehen. Batavus und Sparta sind Teil desselben niederländischen
Fahrradkonzerns, und zwar der Accell-Gruppe, der auch u. a. die deutschen Marken Hercules,
Winora und Staiger angehören. Die Nummer drei nach Gazelle und Batavus ist Giant aus
Taiwan, das in den Niederlanden ein großes Montagewerk besitzt. Im sportlichen Bereich
sind außerdem noch die Marken Koga-Miyata (Accell-Gruppe) und RIH bekannt.
Historische
holländische Fahrräder
Mein persönlicher Eindruck ist, dass in den Niederlanden deutlich weniger alte Fahrräder
erhalten geblieben sind als z. B. in Deutschland oder England. Was früher als etwa Mitte
der 1930er-Jahre gebaut wurde, wird allmählich zur Rarität. Natürlich stehen etliche
solcher Räder bei Sammlern, es tauchen aber nur noch wenige wirklich alte Räder in gutem
Zustand neu auf. Das dürfte mit der intensiven Nutzung holländischer Fahrräder sowie
mit den relativ kleinen Wohnungen der Holländer zu tun haben, in denen es zumeist an
Platz fehlt, um alte Räder einfach stehen zu lassen.
Etwa zwei Drittel der erhalten gebliebenen
Vorkriegs-Hollandräder sind Simplex-, Fongers-, Burgers- oder Gazelle-Räder. Alle vier
Marken waren sehr angesehen, wobei Gazelle und Simplex gleichzeitig die größten
Hersteller waren. Fongers baute die teuersten Räder, die Kundschaft war oft relativ
wohlhabend. Gazelle konnte sich als einzige dieser vier Marken bis heute behaupten. Es
kennzeichnet Gazelle, dass sie - ähnlich wie vielleicht Daimler-Benz bei den
Automobilherstellern - über die Jahrzehnte hinweg mit ihren Produkten zwar immer einen
gewissen Konservatismus ausgestrahlt haben, es aber zugleich verstanden haben, auf neue
Trends rechtzeitig eine passende Antwort zu finden. Der eigene Markenname steht wie kein
anderer für Qualität und Gründlichkeit. Das bestätigt auch eine im März 2004
veröffentlichte umfassende Verbraucherumfrage zu den vertrauenswürdigsten Marken. Bei
den Fahrradherstellern endete Gazelle mit ganzen 44 % auf Platz 1 vor Batavus (28 %,
übrige Marken deutlich unter 10 %).
Zusammenfassung
Wodurch zeichnen sich alte Hollandräder nun aus? Was die Geometrie früherer
Touren-Hollandräder angeht, liegt diese etwa in der Mitte zwischen der bei englischen und
bei deutschen Tourenrädern üblichen und ermöglicht sie aufrechtes, bequemes Sitzen. Die
flachen Steuer- und Sitzrohrwinkel sorgen zugleich für ein "weiches"
Fahrverhalten. Hinzu kommt die reichhaltige Ausstattung der Räder mit Zubehörteilen, vom
serienmäßigen Kettenkasten bis hin zum selbst angeschraubten Halter für den
zusammengeklappten Kinderwagen oder den Aktenkoffer. Nicht Geschwindigkeit sondern Komfort
und praktische Nutzbarkeit heißt die Devise. In dieser Hinsicht muss unter den
niederländischen Marken rückblickend wiederum Gazelle hervorgehoben werden. Besonders in
den 1950er- und 1960er-Jahren zeichnete sich Gazelle mit den etwa 1,7 Millionen in dieser
Zeit verkauften Rädern durch sorgfältige Verarbeitung und hohen Fahrkomfort aus.
Geringes Gewicht oder Sportlichkeit sind dagegen keine
herausragenden Merkmale holländischer Fahrräder. Diese Eigenschaften hatten in einem
Land ohne nennenswerte Höhenunterschiede, in dem das Fahrrad wie nirgendwo sonst als
alltäglicher Gebrauchsgegenstand diente und dient, nie eine hohe Priorität. Alte
holländische Fahrräder fallen auch nicht durch besonders kunstvolle oder filigrane
Gestaltung auf, weder beim Rahmenbau noch in der Ausstaffierung. Ein Hollandrad gleich
welchen Typs ist in erster Linie ein Rad, das auf regelmäßigen Gebrauch bei geringem
Instandhaltungsbedarf ausgelegt ist: Vollkettenschutz, Trommelbremsen, Nabenschaltungen
statt Kettenschaltung und dazu eine ordentliche Verarbeitung und gute Lackierung - solche
Räder halten lange, verschleißen wenig und sind in der Reparatur wenig aufwändig. Mit
diesen Eigenschaften sind Hollandräder weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.
Und welche Einstellung haben die Holländer im Allgemeinen
selbst zu ihren Fahrrädern? Eine lakonische, Hauptsache das Fahrrad ist ein Hollandrad
das fährt. Aber oh weh wenn der Drahtesel gestohlen wird! Daniël Lohues, Sänger der
holländischen Popgruppe Skik, drückte das einmal wie folgt aus: "Ich bin
normalerweise überhaupt nicht aggressiv, aber die Leute müssen ihre Finger von meinem
Rad lassen. Das kann ich nicht vertragen."
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