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Batavus-Katalog 1975

Fahrräder und Fahrradindustrie in den Niederlanden
 

Jüngere Entwicklungen

Bei den neueren Trends gleicht sich die Entwicklung in den Niederlanden immer mehr derjenigen anderer europäischer Länder an. Die ‚Mountainbikewelle‘ ist auch an den Niederlanden nicht spurlos vorübergegangen, wenngleich sich über den Sinn von geländegängigen Fahrrädern mit 21 Gängen im flachen und ‚wildnisarmen‘ Holland trefflich streiten ließe. Seit den 1990er-Jahren werden auch bei Cityrädern immer leistungsfähigere Schaltungsnaben zur Norm. Sachs machte bei den Nabenschaltungen Ende der 1980er-Jahre Sturmey-Archer die monopolähnliche Marktposition streitig, wurde aber später wiederum von Shimano (mit den Nexus-Naben) überholt. In den letzten Jahren haben die Niederländer auch die Vorzüge gefederter Räder entdeckt, wenngleich im internationalen Vergleich recht zögerlich. Und  last but not least haben mittlerweile auch bei den namhaften Herstellern holländischer Räder geschweißte Rahmen aus Fernost die gemufften und gelöteten Rahmen aus eigener Herstellung weitgehend verdrängt.

     In einem Punkt unterscheidet sich aber auch der heutige Fahrradmarkt in den Niederlanden vom "Rest der Welt": Holländer kaufen weiterhin lieber Qualitätsräder im Fachhandel als Billigräder aus dem Kaufhaus oder dem Baumarkt. 2001 wurden 87 % aller neuen Räder beim Fachhandel gekauft, der Anteil dieser Räder am Gesamtumsatz lag wegen der höheren Preise im Fachhandel sogar bei über 90 %. Der Durchschnittspreis des holländischen Fahrrads (einschließlich der günstigen Kinderräder!) betrug in jenem Jahr 557 Euro, rund das anderthalbfache des Preises eines in Deutschland verkauften Rades. Der Grund dafür, dass die Holländer bereit sind, relativ viel Geld für ihr Fahrrad auszugeben, dürfte darin liegen, dass sie ihr Fahrrad tatsächlich benutzen, und das sogar vergleichsweise intensiv, während die deutschen Discounter- und Baumarktfahrräder häufig wenn überhaupt, dann nur an sonnigen Sommersonntagen für kurze Ausflüge genutzt werden. Allerdings gibt es auch historische Gründe für die relativ starke Position des Fachhandels, wie im Folgenden kurz anhand der Geschichte der Branchenorganisation erläutert werden soll.

Organisation der niederländischen Fahrradbranche

Bereits 1893 schlossen sich die Hersteller der Zweiradbranche in Utrecht zu einem Dachverband zusammen, der später den Namen „Rijwiel- en Automobiel-Industrie“ (RAI) bekam und bis heute existiert. Diesem Verband war auch ein Teil der Großhändler angeschlossen. Zehn Jahre später organisierte sich auch der Einzelhandel im Fahrradgewerbe unter dem Namen Bond van Rijwielhandelaren en -Herstellers in Nederland, kurz BRHN, in erster Linie, um die starke wechselseitige Konkurrenz zu dämpfen, die die Verkaufspreise beeinträchtigte. Es gehörte wenig dazu, ein Fahrradgeschäft zu gründen; die BRHN-Händler wollten sich mit ihrem Zusammenschluss von nicht angeschlossenen Händlern (die vom BRHN jahrzehntelang pauschal als "Pfuscher" abqualifiziert wurden) bzw. von Billiganbietern abheben.

 

BRHN-Blechschild

BRHN-Vereinswappen

 

So wurde 1912 eine Liste aller anerkannten niederländischen Einzel- und Großhändler zusammengestellt, mit denen die BRHN-Mitglieder ausschließlich Geschäfte tätigen durften. Wer entgegen den Verbandsrichtlinien regelmäßig bei "Pfuschern" kaufte, wurde zunächst mit Geldbußen bestraft und im Wiederholungsfall ausgeschlossen und mit Boykott belegt. Dieses System wurde auf alle Stufen der Fahrradbranche übertragen und konnte sich wegen der grundsätzlich ähnlichen Interessen der einzelnen Handelsstufen - Ausschluss von Konkurrenz; Sicherung höherer Verkaufspreise - behaupten. Da die Interessen von Einzel- und Großhändlern in verschiedenen Punkten jedoch nicht deckungsgleich waren, gab es immer wieder auch Streitigkeiten, Brüche und Wiederannäherungen zwischen den Handelsstufen. 1919 schlossen RAI und BRHN einen Vertrag zur Gründung eines gemeinsamen Zentralbüros des Fahrradhandels (Centraal Bureau voor den Rijwielhandel, kurz CBR), das Mitgliederlisten führen und die Einhaltung der Abmachungen überwachen sollte. Später legte das CBR auch Verbraucherpreise und Handelsspannen fest und bildete somit ein Kartell, das den heimischen Fahrrad- und Fahrradteilemarkt - ungeachtet der Streitigkeiten zwischen den angeschlossenen Verbänden - umfassend beherrschte.

     Erst 1992 wurde das CBR als eine den freien Handel behindernde Institution vom Staat verboten und aufgehoben, doch die lang bewährten Handelspraktiken verschwanden deswegen nicht von heute auf morgen. Die so genannten "A-Marken", also die Hauptmarken der angesehenen Hersteller, sind nach wie vor praktisch nur beim Fachhandel zu haben. Zusammen mit der geringen Zahl verbliebener holländischer Fahrradhersteller, die einander gut kennen, sowie der Treue der Holländer zu niederländischen Fahrradmarken kann von scharfer Preiskonkurrenz weiterhin keine Rede sein. Im Herbst 2000 leitete das Kartellamt in diesem Zusammenhang ein Untersuchungsverfahren ein und verhängte als Ergebnis dieser Untersuchung im April 2004 empfindliche Geldstrafen in Höhe von insgesamt fast 30 Millionen Euro über die drei größten Fahrradhersteller.

ANWB-Jubiläumsfeier in Haarlem, 1908
ANWB-Plakat zur 25jährigen Jubiläumsfeier in Haarlem, 1908. Der ANWB verstand sich schon damals allgemein als Interessenvertreter für Touristen.

 

ANWB - Radfahrer und Autofahrer unter einem Dach

Schon vor den einzelnen Handelsstufen der Fahrradbranche organisierten sich in den Niederlanden die Radfahrer zu einem landesweiten Verband. 1883 wurde in Utrecht unter der Leitung des Engländers Charles Bingham der „Nederlandsche Vélocipèdisten-Bond“ gegründet, der später den Namen Allgemeiner niederländischer Radfahrerbund („Algemene Nederlandse Wielrijders-Bond“, kurz ANWB) bekam. Seit seiner Gründung in einer Zeit, in der das Fahrrad noch als reines Sport- und Freizeitgerät diente, blieb der ANWB diesem Aspekt immer treu: der Verein entwickelte sich zu einem Tourismus- und Verkehrsverein im breitesten Sinne. Man beschäftigte sich mit dem Zustand der Straßen und Wege und deren Beschilderung, dem Radwegebau, Karten und Reiseführern und wie selbstverständlich auch mit dem Motorrad- und Autofahren sowie dem Wassertourismus.

     Heute ist der ANWB der größte Verein des Landes und bekommt er vom Staat jährlich Zuschüsse in Millionenhöhe um für die Ausschilderung aller Straßen im Land zu sorgen. Seit vielen Jahrzehnten haftet am ANWB der Ruf einer einseitigen Autofreundlichkeit, und 1975 wurde aus diesem Grund der alternative „Fietsersbond“ als Radfahrerlobby gegründet. Dennoch setzt sich der ANWB auch für Radfahrer ein und verdankt Holland sein ausgiebiges Radwegenetz in entscheidendem Maße der Arbeit des ANWB. Der ANWB symbolisiert die Tatsache, dass Radfahrer und Autofahrer in den Niederlanden keine zwei so deutlich zu unterscheidenden Gruppen sind wie in Deutschland.

Lepper-advertentie DNR 20-02-1953Zulieferbetriebe und Komponentenhersteller

Die niederländischen Fahrradhersteller konnten sich früher beim Zukauf von Komponenten größtenteils auf dem Inlandsmarkt bedienen. Schutzbleche, Speichen, Sättel, Lenker, Kettenkästen usw. - alles wurde von einer oder mehreren Firmen angeboten. Einzige Ausnahme waren die Radnaben, die - abgesehen von der erwähnten Beckson-Rücktrittnabe und vereinzelten Eigenfabrikaten mancher Fahrradhersteller - immer importiert werden mussten, und zwar überwiegend aus Deutschland und England. Auffällig groß war die Zahl niederländischer Reifenhersteller, wohl wegen der niederländischen Kolonie Indonesien, in der Rohkautschuk produziert wurde, das daher in Holland relativ günstig war. Vredestein war dabei stets der größte niederländische Reifenproduzent - und ist heute der einzige. Aus deutscher Sicht erwähnenswert ist noch die Firma Lepper in Dieren, die 1926 als Zweigwerk des Bielefelder Lepper-Werkes gegründet worden war und nach dem Krieg verselbstständigt wurde. Lepper in Dieren stellt heute Fahrradsättel und Schutzbleche her.

Heutige Markenlandschaft

Von den namhaften alten Fahrradherstellern haben sich neben Batavus und Gazelle nur Union und Sparta als selbstständige Marken behauptet. Andere alte Marken verschwanden oder existieren nur noch dem Namen nach. Batavus und Union feiern in diesem Jahr ihr 100jähriges Bestehen. Batavus und Sparta sind Teil desselben niederländischen Fahrradkonzerns, und zwar der Accell-Gruppe, der auch u. a. die deutschen Marken Hercules, Winora und Staiger angehören. Die Nummer drei nach Gazelle und Batavus ist Giant aus Taiwan, das in den Niederlanden ein großes Montagewerk besitzt. Im sportlichen Bereich sind außerdem noch die Marken Koga-Miyata (Accell-Gruppe) und RIH bekannt.

Historische holländische Fahrräder

Mein persönlicher Eindruck ist, dass in den Niederlanden deutlich weniger alte Fahrräder erhalten geblieben sind als z. B. in Deutschland oder England. Was früher als etwa Mitte der 1930er-Jahre gebaut wurde, wird allmählich zur Rarität. Natürlich stehen etliche solcher Räder bei Sammlern, es tauchen aber nur noch wenige wirklich alte Räder in gutem Zustand neu auf. Das dürfte mit der intensiven Nutzung holländischer Fahrräder sowie mit den relativ kleinen Wohnungen der Holländer zu tun haben, in denen es zumeist an Platz fehlt, um alte Räder einfach stehen zu lassen.

     Etwa zwei Drittel der erhalten gebliebenen Vorkriegs-Hollandräder sind Simplex-, Fongers-, Burgers- oder Gazelle-Räder. Alle vier Marken waren sehr angesehen, wobei Gazelle und Simplex gleichzeitig die größten Hersteller waren. Fongers baute die teuersten Räder, die Kundschaft war oft relativ wohlhabend. Gazelle konnte sich als einzige dieser vier Marken bis heute behaupten. Es kennzeichnet Gazelle, dass sie - ähnlich wie vielleicht Daimler-Benz bei den Automobilherstellern - über die Jahrzehnte hinweg mit ihren Produkten zwar immer einen gewissen Konservatismus ausgestrahlt haben, es aber zugleich verstanden haben, auf neue Trends rechtzeitig eine passende Antwort zu finden. Der eigene Markenname steht wie kein anderer für Qualität und Gründlichkeit. Das bestätigt auch eine im März 2004 veröffentlichte umfassende Verbraucherumfrage zu den vertrauenswürdigsten Marken. Bei den Fahrradherstellern endete Gazelle mit ganzen 44 % auf Platz 1 vor Batavus (28 %, übrige Marken deutlich unter 10 %).

Zusammenfassung

Wodurch zeichnen sich alte Hollandräder nun aus? Was die Geometrie früherer Touren-Hollandräder angeht, liegt diese etwa in der Mitte zwischen der bei englischen und bei deutschen Tourenrädern üblichen und ermöglicht sie aufrechtes, bequemes Sitzen. Die flachen Steuer- und Sitzrohrwinkel sorgen zugleich für ein "weiches" Fahrverhalten. Hinzu kommt die reichhaltige Ausstattung der Räder mit Zubehörteilen, vom serienmäßigen Kettenkasten bis hin zum selbst angeschraubten Halter für den zusammengeklappten Kinderwagen oder den Aktenkoffer. Nicht Geschwindigkeit sondern Komfort und praktische Nutzbarkeit heißt die Devise. In dieser Hinsicht muss unter den niederländischen Marken rückblickend wiederum Gazelle hervorgehoben werden. Besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren zeichnete sich Gazelle mit den etwa 1,7 Millionen in dieser Zeit verkauften Rädern durch sorgfältige Verarbeitung und hohen Fahrkomfort aus.

     Geringes Gewicht oder Sportlichkeit sind dagegen keine herausragenden Merkmale holländischer Fahrräder. Diese Eigenschaften hatten in einem Land ohne nennenswerte Höhenunterschiede, in dem das Fahrrad wie nirgendwo sonst als alltäglicher Gebrauchsgegenstand diente und dient, nie eine hohe Priorität. Alte holländische Fahrräder fallen auch nicht durch besonders kunstvolle oder filigrane Gestaltung auf, weder beim Rahmenbau noch in der Ausstaffierung. Ein Hollandrad gleich welchen Typs ist in erster Linie ein Rad, das auf regelmäßigen Gebrauch bei geringem Instandhaltungsbedarf ausgelegt ist: Vollkettenschutz, Trommelbremsen, Nabenschaltungen statt Kettenschaltung und dazu eine ordentliche Verarbeitung und gute Lackierung - solche Räder halten lange, verschleißen wenig und sind in der Reparatur wenig aufwändig. Mit diesen Eigenschaften sind Hollandräder weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

     Und welche Einstellung haben die Holländer im Allgemeinen selbst zu ihren Fahrrädern? Eine lakonische, Hauptsache das Fahrrad ist ein Hollandrad das fährt. Aber oh weh wenn der Drahtesel gestohlen wird! Daniël Lohues, Sänger der holländischen Popgruppe Skik, drückte das einmal wie folgt aus: "Ich bin normalerweise überhaupt nicht aggressiv, aber die Leute müssen ihre Finger von meinem Rad lassen. Das kann ich nicht vertragen."

 

 

 

 

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Last update: 05.06.2005