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Fahrräder und Fahrradindustrie in den Niederlanden |
Der Zweite Weltkrieg
In den ersten Monaten nach Beginn der deutschen Besetzung 1940 florierte der Fahrradhandel
weiterhin wie zuvor. Die Zahlen des niederländischen Statistikamtes weisen sogar für
1940 die bis dato mit Abstand höchste Jahresproduktion der Fahrradindustrie aus (471.000
Stück), 1941 die zweithöchste (436.000). Dies dürfte nicht zuletzt auf die von der
deutschen Besatzungsmacht verhängten Beschränkungen beim motorisierten Verkehr
zurückzuführen sein. Ab 1942 ging es dann aber auch mit der Fahrradproduktion rapide
bergab.
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Aufruf der Gemeinde Amsterdam an alle
Besitzer von Herrenrädern, um auf Befehl der deutschen Wehrmacht ihr Fahrrad zu
Sammelplätzen zu bringen. Wer dem Aufruf nicht nachkommt, dem werden "ernsthafte
Strafen" angedroht.
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Während die Abschaffung der bis dahin
geltenden staatlichen (und natürlich verhassten) Fahrradsteuer durch die deutsche
Verwaltung 1941 noch auf eine gewisse Sympathie gestoßen sein dürfte, verursachte die
anschließende systematische Beschlagnahme von Fahrrädern großen Zorn unter der
Bevölkerung. Es begann 1941 mit dem Einzug von Fahrrädern jüdischer Bürger. Im Jahr
darauf wurde die Bevölkerung aufgerufen, die Herrenräder abzugeben. Zwar galten die
Fahrräder offiziell nur als ‚ausgeliehen‘ und es wurde anfangs sogar eine
geringe Entschädigung gezahlt, doch sahen die Besitzer ihre Räder faktisch natürlich
nie wieder. Insgesamt wurden während der Kriegsjahre wahrscheinlich nicht mehr als 1 -
2 % des niederländischen Fahrradbestandes geraubt, von denen außerdem letztlich ein
Großteil das Land gar nicht verließ; der negative psychologische Effekt war dafür um so
größer: die Willkür der Besatzer schränkte die Mobilität des einzelnen Bürgers
erheblich ein. Diesen Aspekt der Besatzungszeit haben viele Niederländer den Deutschen
denn auch bis heute nicht ganz verziehen: Als die holländische Fußballnationalmannschaft im
Halbfinale der Europameisterschaft 1988 die deutsche Mannschaft schlug, sangen die
mitgereisten Fans im Hamburger Volksparkstadion: "Gebt
uns unsere Fahrräder zurück!". Natürlich war das nur ein Scherz, aber es zeigt doch,
wie lange sich diese negative Erinnerung gehalten hat.
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Beckson-Anzeige mit der Überschrift:
"Kauft doch nicht in der Fremde, wenn das eigene Land Besseres bietet". (Aus:
Vakblad Rijwiel-Kleinbedrijf, 25.11.1950)
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Nachkriegszeit
Die Nachkriegsjahre ab 1945 waren auch in den Niederlanden zunächst stark von Material- und
Produktionsengpässen
geprägt. Für den Kauf eines Fahrrades - egal, ob es sich um ein aufgearbeitetes Gebrauchtrad,
um neuwertige Importware oder um Räder aus der noch bescheidenen inländischen Produktion
handelte - war bis 1948 ein Gutschein erforderlich, der nach der Dringlichkeit des Bedarfs
vergeben wurde. Ab 1948 normalisierten sich dann die Verhältnisse allmählich wieder. Es bestand
ein starker Nachholbedarf, und gekauft wurde zunächst einmal das altbekannte, schwere, schwarze
Tourenrad. Die Käufer hatten keinen Bedarf an modischen Extras, und die Hersteller sahen
aufgrund der problemlosen Absatzlage von sich aus keine Notwendigkeit, ihre Produkte durch
besondere Ausstattungsmerkmale attraktiver zu gestalten.
Wie schwierig die wirtschaftliche Situation der Nachkriegszeit
war, zeigt sich auch daran, dass in dieser Zeit der niederländische Staat die Entwicklung
einer Rücktrittnabe finanziell förderte, um Devisen zu sparen, die ansonsten für den Import
von Rücktrittnaben ausgegeben werden mussten. Die Beckson-Nabe war die erste und einzige
niederländische Rücktrittnabe, die in nennenswerten Stückzahlen hergestellt werden sollte.
Sie war eine Weiterentwicklung der alten New-Departure-Nabe und der Vorkriegs-Komet-Nabe.
Hergestellt wurde diese Nabe von Becker's Sons, einem Industriebetrieb, der für verschiedene
Wirtschaftszweige produzierte. Da es auch eine deutschsprachige Anleitung zu dieser Nabe gibt,
ist davon auszugehen, dass die Beckson-Nabe auch in geringem Umfang nach Deutschland exportiert
worden ist. In den Niederlanden verkaufte sich diese Nabe zwar ganz gut, erreichte jedoch nie
die Stückzahlen der Torpedo-Nabe und wurde schließlich Anfang der 1960er-Jahre vom Markt
genommen.
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Sporträder
Zu Beginn der 1950er-Jahre, als der dringendste Nachholbedarf gedeckt war, begannen die niederländischen
Fahrradkäufer, sich auch für modernere Fahrradtypen zu interessieren. Ab etwa 1952 begann in den Niederlanden
der Siegeszug so genannter Sporträder, also leichter gebauter Räder mit steilerem Lenkkopfwinkel, kleinerem
Rahmen und kleineren Laufrädern, die zunehmend auch in anderen Farben als Schwarz angeboten wurden – im Grunde
genommen direkte Vorläufer der heutigen Stadträder. Zeitlich hinkte Holland übrigens stark hinter England,
Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern her, wo solche Räder bereits in den 1930er-Jahren eine wichtige
Rolle zu spielen begonnen hatten.
Die ersten niederländischen Sporträder - 28-Zoll-bereifte Räder,
die sich oft noch relativ stark an die gängigen Tourenräder anlehnten - waren zwar bereits in den
1930er-Jahren angeboten worden, waren jedoch seinerzeit, wie oben erwähnt, von den potenziellen
Käufern nicht angenommen worden. Nach dem Krieg sorgte dann vor allem ein Modell für den Durchbruch:
das bereits 1937 entwickelte "Super de Luxe"
der jungen Fahrradfabrik "Locomotief". Es war als Einheitsrad für Männer und Frauen
konzipiert und besaß deshalb einen stabilen Kreuzrahmen mit sehr niedrigem Durchstieg.
Die aus England übernommene 26 x 1 3/8-Zoll-Bereifung (590 mm Felgendurchmesser) war
richtungsweisend und sollte sich Ende der 1950er-Jahre zur vorherrschenden
Laufradgröße niederländischer Fahrräder entwickeln. |
Locomotief "Super
de Luxe" Sportrad (Katalog 1940)
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Im
Zusammenhang mit dem Aufkommen der Sporträder ist ein Blick auf die geografische
Verteilung der niederländischen Fahrradfabriken aufschlussreich. Die meisten der großen,
namhaften Hersteller waren im von Landwirtschaft und Mittelstand gekennzeichneten Norden
und Osten der Niederlande angesiedelt. Die meisten der Sportradpioniere (Magneet, Locomotief,
Burco) saßen dagegen in oder bei Amsterdam, wo es darüber hinaus auch
noch eine Reihe kleinerer, spezialisierter Rennradhersteller gab. |
Simplex "Cote d'Azur" (Katalog
1960) mit für die Zeit typischer zweifarbiger Lackierung und Rahmendekorationen,
zweifarbigem Sattel, transparenten Mantelschonern und Kettenkasten mit Zierfenster.
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Gegen Ende
der 1950er-Jahre überflügelten die Sporträder die traditionellen Tourenräder bei den
Verkaufszahlen. In dieser Zeit wurden sehr schöne, reichhaltig ausgestattete und verzierte
Sporträder gebaut. Die meisten dieser Räder hatten bowdenzugbetätigte Felgenbremsen und Freilauf;
manche hatten im Hinterrad die Sturmey-Archer AW-Dreigangnabe. Allerdings verfügten gerade die
teureren Modelle oft noch über die - eigentlich altmodischen - gestängebetätigten Trommelbremsen
und den 'wiederentdeckten' Ölbad-Kettenkasten aus Blech, was eher dem holländischen Hang zur
Langlebigkeit als dem Ideal der Sportlichkeit näher kam. |
Im
Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland, wo die zunehmende Motorisierung ab der Mitte der
1950er Jahre zu einem Einbruch der Verkaufszahlen bei Fahrrädern und Motorrädern führte, stieg
der Absatz in Holland in dieser Zeit sogar etwas. Zwar nahm im selben Zeitraum die Zahl der
motorisierten Fahrzeuge ebenfalls - und zwar deutlich - zu, doch gaben die Holländer deswegen
offenbar das Radfahren nicht auf. Es veränderten sich vor allem die Nutzergruppen. Während
Männer zunehmend motorisierte Fahrzeuge nutzten, fuhren mehr und mehr Frauen und Jugendliche
mit dem Fahrrad. Die öffentliche Wahrnehmung des Fahrrads veränderte sich in diesen Jahren,
wie in anderen Ländern auch, durch die Verbreitung motorisierter Verkehrsmittel stark: Ein
Fahrrad wurde ab den 1950er Jahren nicht mehr unbedingt als eine ‚Anschaffung fürs Leben'
verstanden, sondern mehr als ein Ge- und Verbrauchsartikel. |
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Konzentrationsbewegungen in der Branche
Den eben beschriebenen Übergang vom Touren- zum Sportrad bewältigten nicht alle Firmen gleich gut. Gazelle
schaffte den Wechsel und entwickelte sich im Laufe der 1950er-Jahre endgültig zur mit
Abstand größten Fahrradfabrik des Landes, Simplex kaufte Locomotief bzw. fusionierte mit
diesem Unternehmen und behauptete sich hinter Gazelle als Nummer Zwei. Fongers und Burgers, zwei
der ältesten und renommiertesten Unternehmen der niederländischen Fahrradindustrie,
verpassten hingegen den Trend und fielen somit dem eigenen Traditionalismus zum Opfer.
Burgers bestand nach 1961 nur noch als Marke der Fahrradfabrik Pon,
Fongers fusionierte in derselben Zeit mit zwei anderen Herstellern und musste 1971 die Tore
endgültig schließen. Bei Batavus, die zwar zu den älteren Fahrradfabriken gehörte, jedoch in der
Rangfolge der Hersteller bis Anfang der 1950er-Jahre eher von untergeordneter
Bedeutung war, hatten die Veränderungen den umgekehrten Effekt:
Fortschrittliche Modellgestaltung und gute Betriebsführung brachten dieses
Unternehmen im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre weit nach vorne.
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Union "Strano" (1963, Faltblatt)
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Sparta "8-80" Familienrad mit
Stahlpressrahmen (Werbepostkarte, 1967). Der Modellname gibt an, für welche Altersklasse
das Rad gedacht ist.
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In den 1960er-Jahren veränderte sich die niederländische Fahrradbranche
insgesamt sehr stark. Das Fahrrad konkurrierte als Verkehrsmittel nun
eindeutig mit den motorisierten Fahrzeugen, vor allem den Mofas und Mopeds.
Die Käufer waren nicht mehr bereit, hohe Preise für ein Fahrrad zu zahlen,
während die Herstellungskosten – bedingt unter anderem durch die aus
Konkurrenz- und Modegründen erforderliche größere Modellvielfalt und steigende
Löhne - in die Höhe gingen. So schrumpften die Gewinnspannen, und die
Hersteller sahen sich gezwungen, die Fertigung wirtschaftlicher zu gestalten,
was zugleich auch größere Stückzahlen bedeutete. Für die meist
kapitalschwachen Familienunternehmen, die die erforderlichen Investitionen
nicht selbst aufbringen konnten, bestand der einzige Ausweg aus einer Fusion
oder einer Übernahme.
Auch Großhändler schlossen sich in dieser Zeit
zu Kooperationsverbänden zusammen, und der Handel orientierte sich stärker
international; der Export holländischer Fahrräder nahm insgesamt deutlich zu.
Während in den 1950er-Jahren der überwiegende Teil der Exportproduktion in die
USA ging, wurde ab den 1960er-Jahren immer mehr in die Bundesrepublik
verkauft. Auch beim Import war Deutschland der größte Handelspartner, wobei es
sich hauptsächlich um billige Fahrräder bzw. um Nischenprodukte (Kinderräder,
Klappräder) handelte. Dennoch blieb der holländische Fahrradmarkt in dieser
Zeit fest in Händen der einheimischen Hersteller.
Falt- und
Familienräder
Einen wichtigen neuen Trend bei den Fahrradtypen stellten in den 1960er-Jahren
die Falt-, Zerlege- und ‚Familien‘-räder dar, anfangs vor allem mit 24"-
bereiften Rädern, später überwiegend mit 22"-Laufrädern. Der vielleicht
auffälligste Vertreter dieser Kategorie ist das Ende 1963 vorgestellte Union
"Strano", das Union angeblich vollständig selbst entwickelt haben will.
Gewisse Zweifel sind angebracht, denn ein vergleichbares Rad war bereits in
den 1940er-Jahren in Italien als "Velocino" bekannt geworden. Das Strano
läutete zwar die Ära der kleinen Fahrräder ein, verkaufte sich aber schlecht,
so dass die Produktion nach ein oder zwei Jahren wieder eingestellt wurde.
Das erste echte Faltrad aus niederländischer Produktion war 1964 das Gazelle
"Kwikstep", das in dieser Form jedoch ebenfalls nur wenigen Jahre
gebaut und dann von einem Zerlegerad unter gleichem Namen abgelöst wurde. Ein
länger dauernder Erfolg war den Modellen mit kreuzförmigem Zentralrohrrahmen
beschieden (im Prinzip ähnlich den Kreuzrahmen-Niederrädern der 1880er-Jahre),
die meist als Stahlpressrahmen ausgeführt waren (Sparta, Magneet, Batavus). Neben dieser
neuartigen Modellsparte fanden in den 1960er-Jahren in Holland auch erstmals Räder
mit Kettenschaltung breitere Beachtung; der Absatz dieser Räder nahm in der Folgezeit
allmählich zu.
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Gazelle
"Kwikstep" (1964, Faltblatt), das im Gegensatz zu den meisten anderen
Falträdern um eine horizontale Achse unter dem Tretlager gefaltet wurde
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Die 1970er und 1980er Jahre: Braune ‚KT3‘-Räder
Nach der Konzentrationswelle der 1960er-Jahre hatte Anfang der 1970er-Jahre
Batavus (mit den Handelsmarken Batavus, Bato, Fongers, Magneet, Phoenix,
Germaan) in etwa mit Gazelle (Handelsmarken: Gazelle, Simplex, Locomotief,
Juncker) gleichgezogen. Diese Relation gilt übrigens noch heute. Die
"Nummer Drei" war Union.
Neben einfachen Rücktrittnaben hatte sich die Sturmey-Archer
AB-Dreigangnabe mit Trommelbremse allgemein durchgesetzt, wobei die Bremsen
immer öfter mit Bowdenzug anstatt des aufwändigen Bremsgestänges betätigt
wurden. Diese Räder wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren so häufig
verkauft, dass sie in Fachkreisen allgemein als "KT3-Räder" (Kabel,
Trommelbremse, Dreigangnabe) bezeichnet wurden. Lackiert waren die Fahrräder
dieser Zeit gern in modischen Brauntönen oder in Grün.
Was die Qualität der niederländischen Fahrräder angeht,
wurde in den 1970er-Jahren ein Tiefpunkt erreicht – billig zusammengesetzte
Rahmen, weniger haltbare Lackierungen (dies allerdings teilweise auch bedingt
durch strengere Umweltauflagen und die damit erforderlich gewordenen
Experimente), billige Tretlager, minderwertige Beleuchtungsteile usw. Ob die
allgemeine Wertschätzung für Fahrräder in Holland aufgrund der geringen
Qualität niedrig war, oder ob die Fahrräder schlecht waren, weil die Käufer
keine hohen Ansprüche stellten, ist natürlich schwer zu entscheiden. Gekauft
wurden diese Räder, doch viel Freude dürften die Käufer(innen) nicht damit
gehabt haben, und vor allem nicht sehr lange. Zwei interessante und
langfristig relevante Trends bei den Fahrradmodellen begannen in dieser Zeit
und charakterisieren sie zugleich:
Die traditionellen, schwarzen Tourenräder, die im Laufe
der 1960er-Jahre stark rückläufige Verkaufszahlen aufwiesen, wurden ab der
Saison 1976 wiederentdeckt, wenn auch nur als "Nischenprodukt". Das
gilt insbesondere für das traditionelle Damenrad, das als ‚Omafiets’ nun von
allen Herstellern wieder ins Programm aufgenommen wurde – es ist
hervorzuheben, dass Gazelle die Produktion nie eingestellt hatte. Diese
Nostalgieräder waren und sind ihren historischen Vorbildern zwar äußerlich
ähnlich, die Qualität und Langlebigkeit dieser besitzen sie jedoch nicht.
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Sparta "Windwor
LM" (1981, Katalog) mit dem so genannten Rahmen aus einem Stück. Vor allem die
Anlötung
des Tretlagergehäuses (rechts) ist der wechselnden Belastung beim Treten nur allzu oft
nicht gewachsen.
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Ein zweites
typisches Kind der 1970er-Jahre sind die Sparta-Räder mit kostengünstig
herzustellendem muffenlosem Rahmen, bei denen der Hauptrahmen aus einem
durchlaufenden Rohr besteht. Sparta baute davon zwischen 1973 und 1995 etwa
zwei Millionen Stück, von denen viele auch nach Belgien, Deutschland und
Dänemark exportiert wurden. Beworben wurde vor allem die angeblich konstruktiv
bedingte besondere Stabilität der Einrohr-Rahmen. In der Praxis zeigte sich,
dass eher das Gegenteil der Fall war: Die Rahmen brachen überdurchschnittlich
häufig, insbesondere im Bereich des Tretlagers. |
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Herbert Kuner, © 2004 ...
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Last update: 16.04.2005
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