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Das Fahrrad
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Im Jahr 2000 zog Johannes Hendricus Littooij, geboren am 23. August 1909, von
seiner Wohnung im niederländischen Bilthoven in ein Pflegeheim um. Zu seinem Hausrat gehörte auch ein Fahrrad, das er seit über
70 Jahren besessen hatte, und für das nun ein neuer Besitzer gesucht wurde. So kam dieses Rad, das innerhalb der Familie Littooij
den Spitznamen "das Kamel" trug, in meine Sammlung. Es ist im Verlauf seines für ein Fahrrad ungewöhnlich langen Lebens intensiv
genutzt worden und befand sich deshalb bei der Übernahme in einem relativ schlechten Zustand. Ich habe mich aber wegen des
seltenen hohen Rahmens, des stabilen Baus und nicht zuletzt wegen seines interessanten und recht gut dokumentierten
geschichtlichen Hintergrundes für eine Vollrestaurierung entschieden.
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Das Kamel im Jahr
2000, vor der Restaurierung |
Der
Radfahrer
J. H. Littooij (1909 - 2003) war ein überzeugter Radfahrer,
außerdem Vegetarier, Nichtraucher und (Alkohol-)Abstinenzler. Durch diese gesunde und naturnahe Lebensweise konnte er sein Leben
lang eine starke Konstitution bewahren und wurde nie krank. Seine Söhne haben mir allerlei Geschichten darüber erzählt, wozu er
das Fahrrad verwendete und was er damit alles erlebte. Das Fahrrad trug familienintern den Spitznamen "das Kamel", weil
J. H. Littooij für seine Zeit recht groß war (1,83 m) und dementsprechend auch ein ungewöhnlich großes Fahrrad
benutzte, da er gerne mit ganz gestreckten Beinen radelte. Das "Kamel" glich seinen Vorbildern aus Fleisch und Blut
auch darin, dass es anspruchslos und zuverlässig war, auch wenn es darum ging, große Entfernungen zurückzulegen.
Der Vater schaffte sich das Fahrrad an, wie die Söhne mir berichteten, um am Wochenende zwischen
seinem Elternhaus in Soest und Eindhoven zu pendeln, wo er bei Philips arbeitete, immerhin etwa 110 km Entfernung. Neben
den beruflichen Fahrten nutzte er das Rad aber auch an Urlaubstagen zu Fahrten kreuz und quer durch die ganzen Niederlande.
Schwere Kisten mit Campingausrüstung schickte J. H. Littooij mit einem Versanddienst voraus, holte sie dann mit dem
"Kamel" ab und transportierte sie zum Campinggelände, und am Ende des Aufenthaltes ging alles wieder auf demselben Weg
zurück.
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J.H. Littooij mit seinem Sohn Hans beim Zelten in den Dünen auf Terschelling |
Das Fahrrad hatte von Anfang an nur eine starre Hinterradnabe, keinen Freilauf und keine
Hinterradbremse. Auch dies hing mit der "spartanischen" Lebenseinstellung J. H. Littooijs zusammen; so
eine starre Nabe war technisch unkompliziert, leichtgängig und pannensicher. Dass das Rad nicht über einen Freilauf verfügte,
hatte mitunter allerdings auch so seine Nachteile: "In den ersten Jahren nach dem Krieg fuhr Vater oft monatelang [täglich]
von Bilthoven nach Utrecht und zurück. Er arbeitete dort in einer Philips-Niederlassung, wenn bei den [Lehr-]Kursen - er leitete
sonst im ganzen Land Elektrotechnik-Kurse für Philips-Händler - gerade Flaute war. Eines Tages kam er [schon] vormittags
[wieder] nach Hause zurück und trug einen Overall. Was war geschehen? Ein Hosenbein war in die Kette des Kamels geraten, und
der Wollstoff rollte sich ab. Die Pedale drehten sich weiter, er konnte nicht schnell anhalten, und so fehlte schließlich ein
Hosenbein. Eine freundliche Frau, die sich wahrscheinlich [angesichts seines seltsamen "Beinkleides"] vor Lachen
geschüttelt hat, lieh ihm einen Overall, damit er nach Hause fahren konnte."
Die Tatsachen, dass Littooij ein so "urtümliches" Rad fuhr, im Urlaub zeltete und
sein Leben lang kein Fleisch, keinen Alkohol und keine Zigarette anrührte, hatten einen gemeinsamen Hintergrund. Seine Eltern
hatten sich 1910 "Chreestarchia" angeschlossen, einer Gemeinschaft von Anhängern einer alternativen, naturverbundenen
und einfachen Lebensweise. Littooijs Vater gründete den Verlag + Buchhandlung Chreestarchia in Soest, der verschiedene Bücher von Felix Ortt
herausgab, einem christlichen Anarchisten und Humanisten, Mitbegründer von Chreestarchia und zugleich ein führender Kopf der
niederländischen Vegetarierbewegung. J. H. Littooij blieb den Idealen seiner Eltern sein Leben lang treu. Er starb
am 19. April 2003 im Alter von 93 Jahren.
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Das
Fahrrad
Das Fahrrad ist im Jahr
1929 von Toon Cornelissen vom Fahrradhandel Tongo in der Tongelresestraat in Eindhoven gebaut worden. Fahrradhändler, die
selber Fahrräder bauten, taten das meistens im Winter, wenn es sonst nicht so viel Arbeit gab oder auch in den Abendstunden.
Sie kauften Muffen und Rohre von spezialisierten Händlern und löteten daraus einen Rahmen, den sie anschließend selber
lackierten, linierten und anschließend zum vollständigen Fahrrad montierten. Der Preis eines Händlerrades lag seinerzeit
üblicherweise etwas unter dem der bekannten Fahrradmarken. Aber Littooij dürfte es bei seiner Bestellung nicht in erster
Linie um einen besonders günstigen Preis gegangen sein, sondern darum, ein Rad zu bekommen, das genau seinen persönlichen
Vorstellungen entsprechend aufgebaut wurde.
Zu den "Sonderwünschen" gehörte den Erzählungen der Söhne nach die grüne Lackierung
des "Kamels". Holländische Fahrräder waren seinerzeit fast immer schwarz lackiert, und ungeachtet der Tatsache,
dass farbige Fahrradlackierungen damals durchaus schon lange angeboten wurden, stellten sie 1929 doch noch eine Seltenheit
dar.
Der Rahmen sollte möglichst hoch sein. Das bedeutete für Littooijs Körpergröße eine Rahmenhöhe
von 28" (71 cm). Cornelissen ging dabei von einem Rahmen mit normaler Länge (Oberrohr 61 cm, Rahmenweite
55,5 cm) und normalem Steuerkopfwinkel (65°) aus. Um die Instabilität eines so hohen Rahmens aufzuheben, wurde der Rahmen
mit einem zweiten Oberrohr ausgestattet. Bis dahin entspricht das Rad dem, was man auch bei den großen Fahrradfirmen bestellen
konnte.
Auf Littooijs Wunsch montierte Cornelissen eine Boten- bzw. Transportrad-Vordergabel. Diese ist
nicht nur massiver gebaut, sondern auch stärker gewölbt (13 cm Gabeldurchbiegung) als eine normale Gabel, so dass das Rad
einen für niederländische Verhältnisse extremen Radstand von 125 cm hat. Auch die gewählte Laufradgröße wich vom
Üblichen ab und entsprach der für Transportfahrräder: 28 x 1 3/4" anstelle der in Holland üblichen
28 x 1 1/2". Der Gepäckträger ist seinerzeit von F. X. Meijer in Soest als Einzelstück und
offenbar nach den Vorstellungen des Kunden angefertigt worden.
Das Fahrrad hatte, wie schon erwähnt, am Hinterrad weder Freilauf noch Bremse. Es war nur eine auf das
Vorderrad wirkende Stempelbremse vorhanden. Für das im Verhältnis zur Nachkriegszeit noch begrenzte Verkehrsaufkommen in
Städten und vor allem für Fahrten über Land war das ausreichend. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg nahm der Autoverkehr jedoch
schnell zu, und daher ließ Littooij sein Rad "aufrüsten". Es wurde ein – in Holland übliches – Vorderrad mit
Trommelbremse montiert, für eine Bereifung 28 x 1 1/2"; Vorder- und Hinterrad waren von diesem Zeitpunkt
an also unterschiedlich groß. Weiterhin wurde die Stempelbremse abgebaut, das vordere Schutzblech wurde gewechselt, und um die
Trommelbremse bedienen zu können wurde ein Bremszug mit Bremsgriff montiert, anstelle der in Holland üblicheren Betätigung über
Gestänge. Für die Montage des Bremsgriffes musste der Lenker gegen ein anderes Modell ausgewechselt werden.
Auch das Tretlager wurde in dieser Zeit gewechselt, aber nicht mit der Absicht einer Veränderung
oder Verbesserung; vermutlich war das originale Lager zu dieser Zeit, also nach etwa 20jährigem Betrieb, durch intensive
Nutzung verschlissen. Und last but not least wurde das Fahrrad neu lackiert - jetzt in Schwarz - und wurden Abziehbilder der
Phantasiemarke "Coventry Express" auf Lenkkopf- und Unterrohr angebracht. Das Kamel hat also eine recht umfassende
"Metamorphose" durchgemacht.
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Der
Erbauer des Fahrrads
Über das Fahrradgeschäft
von Anton ("Toon") Cornelissen in Eindhoven sind nur wenige Daten bekannt. Aus 1928 datiert die Auflistung
Cornelissens unter den vom niederländischen Zentralbüro des Fahrradhandels (CBR) anerkannten Fahrradhändlern, mit der Adresse
Goorstraat 27. Da er im selben Jahr heiratete, ist es wahrscheinlich, dass das Geschäft auch tatsächlich 1928
gegründet wurde.
Im Eindhovener Adressbuch von 1934 wird Cornelissen zweimal erwähnt: als Fahrradhändler
A.P. Cornelissen und unter seinem Firmennamen Rijwielhandel Tongo; die Adresse ist jeweils Tongelresestraat 188E.
Ende 1934 ging Cornelissen in Konkurs, konnte das Geschäft aber danach weiterführen. Am 11. März 1940 starb
Cornelissen plötzlich, zwei Monate später wurde der Fahrradhandel offiziell geschlossen.
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Anerkennung von Toon Cornelissen durch das Zentralbüro des
Fahrradhandels (CBR)
im Jahr 1928 (links, Quelle: Orgaan voor
het Rijwiel- en Automobielbedrijf).
Eintrag Fahrradgeschäft Tongo im Eindhovener Adressbuch von 1934 (rechts,
Scan: H. van Melis)
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Ein Berufskollege Cornelissens war in den 1920er Jahren der Fahrradhändler
Frans Jansen, der eigene Räder unter der Marke "Driekleur" verkaufte. Frans Jansen übergab das Geschäft später an
seinen Sohn Theo Jansen (geboren 1916), der sich noch an Cornelissen erinnern kann. "Er war in seinem Teil Eindhovens,
dem Stadtviertel Tongelre, ein sehr bekannter Fahrradhändler. Es gab in Eindhoven drei Fahrradhändler, die selber komplette
Räder anfertigten, und zwar meinen Vater, Cornelissen und Frans van Rooij. Das waren echte Fachleute." Unter welcher
Marke Cornelissen die selbst gebauten Fahrräder verkaufte, weiß Theo Jansen heute nicht mehr genau; er vermutet, dass es die
Marke "Tongo" war.
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Die
Restaurierung (2000 - 2005)
Die Restaurierung des "Kamels" zog sich auf Grund persönlicher
Umstände sehr lange hin. Fast fünf Jahre dauerte es insgesamt, bis sich das Rad aus einer "Ruine" wieder in ein
ansehnliches und vollständig einsatzbereites Objekt verwandelt hatte. Wie anhand der folgenden Restaurierungsdokumentation zu
erkennen ist, war der Arbeitsaufwand allerdings auch sehr hoch. Bei den während der Restaurierung zu treffenden Entscheidungen
habe ich mich von folgenden Grundsätzen leiten lassen:
- Der ursprüngliche Neuzustand des Fahrrads war nicht genau bekannt, war am Fahrrad nicht mehr ablesbar und auch – da es sich
um eine Einzelanfertigung handelte - über Katalogabbildungen oder -beschreibungen nicht zu ermitteln. Eine Rekonstruktion des
Neuzustandes war damit von vornherein ausgeschlossen. Dies war allerdings auch in diesem Fall nicht mein zentrales Anliegen,
denn das Rad hat eine interessante und relativ gut dokumentierte individuelle Geschichte, die in diesem Fall historisch
bedeutsamer ist als ein fiktiver Originalzustand. Das Fahrrad spiegelt daher heute in seinem Erscheinungsbild die Absichten
seines früheren Nutzers über einen Großteil des Nutzungszeitraums wieder, nicht den Auslieferungszustand. Deshalb habe ich
mich entschlossen, möglichst viele der zu Beginn der Restaurierung am Rad montierten Teile zu erhalten, auch wenn sie definitiv
nicht dem ursprünglichen Zustand entsprachen.
- Ich würde mich in Bezug auf die Arbeit an historischen Fahrrädern weder als Perfektionisten, noch als Puristen bezeichnen.
Jedoch lege ich Wert auf einen guten technischen Zustand eines Rades nach seiner Restaurierung; es soll im Rahmen seiner
ursprünglichen Möglichkeiten nutzbar und gut zu fahren sein.
- Grundsätzlich sollte der Charakter des Rades erhalten bleiben; am Ende der Restaurierungsarbeiten sollte ein Rad mit
gepflegtem Äußerem stehen, dessen Ausstrahlung zu seinem Alter passt.
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Für
alle technische Hilfe sowie Hilfe bei den Nachforschungen zur Geschichte
dieses Fahrrads möchte ich Gerlof Langerijs, Hans van Melis und Vincent van Eerd
recht herzlich danken. Besonderer Dank gebührt Hans und Marijn Littooij,
die meinen zahlreichen Fragen mit Geduld und Verständnis begegnet sind.
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Last update: 25.09.2019
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